„Und das soll gerecht sein…?“
Gerade im Erbrecht und speziell unter Geschwistern gehen die Meinungen darüber, was im Einzelfall „gerecht“ oder „ungerecht“ ist, erfahrungsgemäß weit auseinander. Die Beurteilung wird dabei - anderes war auch kaum zu erwarten - weniger von grundlegenden juristischen oder auch moralischen Beurteilungen bestimmt, sondern von der konkreten Interessenlage.
Typisches Beispiel: Der Sohn erhält den Betrieb vom Vater gegen Zahlung einer lebenslangen Rente in Höhe eines bestimmten Monatsbetrages, meist inflationsgesichert, übertragen. Nehmen wir an, bei der Bemessung des Monatsbetrages hat man eine statistische Lebenserwartung des Vaters, berechnet nach dessen Alter bei Beginn der Rente, von 15 Jahren zugrunde gelegt. Zum Entsetzen des Sohnes hält sich der Vater nicht an die Statistik und lebt noch doppelt so lange. Der Sohn wird dies in aller Regel - dem Autor sind derartige Beispiele bekannt - als schreiende Ungerechtigkeit empfinden.
Den quasi entgegengesetzten Fall hatte jetzt das OLG Frankfurt zu entscheiden (Beschluss vom 06.05.2019, 8 W 13/19): Dort hatte ein Onkel seiner Nichte sein Haus verkauft. Dabei hatte er sich ein lebenslanges Wohnrecht vorbehalten und die Nichte hatte darüber hinaus seine lebenslange Pflege im häuslichen Bereich übernommen, solange diese Pflege ihr möglich und zumutbar sei. Der Wert der Pflegeverpflichtung und der Wert des Wohnrechts, beide berechnet nach der statistischen Lebenserwartung des Onkels, wurden vom „eigentlichen“ Kaufpreis abgezogen, der demzufolge ganz erheblich nach unten ging. Viel Freude am Wohnrecht und an der Pflegeverpflichtung hatte der Onkel jedoch nicht: Er verstarb überraschend schon drei Wochen nach Vertragsabschluss. Seine Erbin verlangte im Wege der sog. „ergänzenden Vertragsauslegung“ eine erhebliche „Kaufpreisnachzahlung“, da man ja bei der Berechnung und Vereinbarung des letztlich verbleibenden niedrigen Kaufpreises von einer Wohnrechts- und Pflegedauer gemäß der sehr viel höheren statistischen Lebenserfahrung des Onkels ausgegangen sei.
Das OLG Frankfurt hat dem eine Absage erteilt: Auf den Punkt gebracht führte es aus, das von der Käuferin übernommene Risiko, dessen sich auch beide Vertragsparteien bewusst gewesen seien, habe sich in beide Richtungen verwirklichen können. Genauso gut habe der Onkel auch deutlich länger als es seiner statistischen Lebenserwartung entspreche, leben können. Auch dann habe die Nichte keine (weitere) Kaufpreisreduzierung verlangen können. Dem ist zuzustimmen, zumal ein Versterben „exakt nach der statistischen Lebenserwartung“ in derartigen Fällen in der Praxis die absolute Ausnahme ist.
Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf § 14 Abs. 2 des (steuerlichen) Bewertungsgesetzes. Danach kann beim „sehr frühzeitigem“ Wegfall einer Nutzung oder Leistung der Steuerpflichtige beim Finanzamt beantragen, dass die steuerliche Beurteilung „nach der wirklichen Dauer der Nutzung oder Leistung“ erfolgt, die ursprüngliche Festsetzung nach der statistischen Lebenserwartung also berichtigt wird. Dies allerdings nur dann, wenn bei bestimmten Altersstufen der Wegfall innerhalb bestimmter kurzer Zeiträume eintritt: So kann beispielsweise der Erbe einer Person, die bei Beginn der Nutzung oder Leistung ein Alter von „mehr als 70 Jahren bis zu 75 Jahren“ hatte, eine solche Korrektur nur beantragen, wenn die Leistung nicht länger als fünf Jahre gewährt wurde, weil vorher der Tod eintrat. Bei der Altersstufe 80 - 85 Jahre beträgt die Grenze lediglich drei Jahre und bei einem Alter von mehr als 90 Jahren lediglich ein Jahr. § 14 Abs. 2 BewG wirkt jedoch nur steuerlich. Dort wird die Vorschrift oft übersehen. Dabei kann ein entsprechender Antrag (und nur auf einen solchen Antrag hin wird das Finanzamt tätig) sehr wohl sinnvoll und ggf. zu spürbaren steuerlichen Vorteilen führen.
Dr. Hans Vogt, Rechtsanwalt und Steuerberater, Fachanwalt für Erbrecht und für Steuerrecht