EuGH: Kündigung Schwerbehinderter in der Probezeit
Das deutsche Arbeitsrecht sieht zugunsten schwerbehinderter Arbeitnehmer einen umfassenden, besonderen Kündigungsschutz vor. Nach § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1SGB IX gilt dieser Schutz jedoch noch nicht für Arbeitsverhältnisse, die zum Zeitpunkt einer Kündigung noch nicht länger als sechs Monate Bestand hatten. In seiner aktuellen Entscheidung (EuGH Urt. v. 10.02.2022 – C-485/20 HR Rail) hat der EuGH diese Wertung nun in Frage gestellt.
In dem zu entscheidenden Fall hatte ein belgisches Eisenbahnunternehmen den Kläger als Facharbeiter für Gleisarbeiten angestellt. Nach Arbeitsantritt musste dem Kläger aufgrund einer Herzerkrankung ein Herzschrittmacher eingesetzt werden. Die zuständige belgische Behörde stufte den Kläger daraufhin als Schwerbehindert ein. Seine bisherige Arbeit an den Gleisen des Unternehmens konnte der Kläger aufgrund seines Herzschrittmacher nicht länger ausführen. Nach einer kurzen zwischenzeitlichen Beschäftigung als Lagerist sprach das beklagte Unternehmen schließlich die Kündigung innerhalb der vertraglich vereinbarten Probezeit aus. Der Kläger zog hiergegen vor die belgischen Arbeitsgerichte.
Diese legten nun dem EuGH die Frage vor, ob die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie der Kündigung eines Schwerbehinderten innerhalb der Probezeit entgegenstehen kann. Der EuGH hat das nun grundsätzlich bejaht: Ein Arbeitnehmer mit Behinderung kann einen Anspruch auf Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz haben, für den er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern eine solche freie Stelle im Unternehmen besteht. Dieser Anspruch besteht ausdrücklich auch während einer noch laufenden Probezeit des Arbeitsverhältnisses. Die Grenze des Anspruchs sei dort erreicht, wo eine solche Maßnahme den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten würde.
Für Arbeitgeber in Deutschland ist mögliche Folge dieses Urteil, dass entgegen der Erleichterungen aus § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB IX vor einer Kündigung von Schwerbehinderten auch in der Probezeit zunächst die Möglichkeit einer Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder der Umsetzung auf eine freie, behinderungsgerechte Arbeitsstelle zu prüfen sein wird.
Dr. Heike Thomas-Blex, Fachanwältin für Arbeitsrecht und Rechtsreferendarin Janina Barg